Elena mit Eltern im Hintergrund

Elena will nicht sterben

Wenn man die Eltern fragt, ob sie sich wieder so entscheiden würden, erzählen sie, wie Elena das erste Mal lachte.

Ein junges Paar erwartet das erste Kind. Während der Schwangerschaft malen die Ärzte vom Fötus ein Bild wie von einem Monster: offener Rücken, Herzfehler, Trisomie 18. Die Eltern lassen nicht abtreiben. Ein Kampf beginnt. Von Vivian Pasquet

 

Am 3. Mai 2013 notiert das Ehepaar Novak das Schicksal seiner ungeborenen Tochter auf DIN A4, Schriftgröße 12, Schriftart Times New Roman.

 

Die werdenden Eltern schreiben: „Für die Geburt unserer Tochter Elena Novak halten wir folgende Dinge schriftlich fest: Unsere Tochter leidet unter einer freien Trisomie 18. Der Krankheitsverlauf und die damit verbundene Prognose sind uns bekannt. Wir wünschen eine natürliche Geburt.“

 

Sie schreiben weiter: „Sollte unsere Tochter direkt im Anschluss an die Geburt Schwierigkeiten mit der Atmung haben, wünschen wir eine einmalige Reanimation. Sollte sich herausstellen, dass unsere Tochter trotz erster Hilfe nicht in der Lage sein wird, selbstständig zu atmen, werden wir von weiteren lebenserhaltenden Maßnahmen absehen.“

 

Sie schreiben: „Ich, Sandra Novak, wünsche keine Schmerzmittel, die sich auf mein Bewusstsein auswirken könnten.“

 

„Wir wünschen, dass unsere Tochter getauft wird.“

 

Dann: „Wir möchten darauf hinweisen, dass jede Minute mit unserer Tochter ein Geschenk für uns sein wird. Wir möchten nicht, dass unsere Tochter leidet oder Schmerzen hat.“
Die Novaks engagieren eine eigene Hebamme, denn wenn im Kreißsaal viel los ist, würden die anderen Hebammen wenig Zeit für sie haben, hatte ein befreundeter Arzt gesagt. Die würden sich um die lebenden Kinder kümmern. Nicht um die sterbenden.

 

Eineinhalb Monate später, am 24. Juni 2013, tragen Sandra und Kristian Novak ihr Neugeborenes, Elena, drei Wochen alt, in die Gehirnchirurgie eines Kreiskrankenhauses in Hessen. Der untere Rücken des Säuglings steht offen. Die Eltern berichten, die Ärzte des Universitätsklinikums Frankfurt am Main, in dem das Kind auf die Welt kam, hätten den Rücken nach der Geburt nicht verschlossen. Hirnwasser tropft aus dem Kind.

 

Zwei Jahre später, 2015, sitzen Sandra Novak, Hausfrau, und Kristian Novak, Informatiker, in ihrem Wohnzimmer und erzählen von ihrer Tochter Elena. Von einem Kind, geboren mit zwei Behinderungen, von denen die eine immer tödlich endet, die andere aber eigentlich behandelt werden kann. Es ist eine Geschichte von richtigen und falschen Entscheidungen.

 

Von den Fragen danach, wer leben darf und wann ein Leben als lebenswert gilt. Von Zweifeln und Glück. Die Novaks bitten darum, ihren Familiennamen nicht zu nennen, sie heißen anders, nicht Novak. Auch die Namen der Kliniken nennen sie nur zaghaft. Sie wollen niemanden an den Pranger stellen. Aber die Geschichte, die müsse erzählt werden. Um zu mahnen, sagt die Mutter. Um Hoffnung zu schenken, sagt der Vater.

 

Die Erzählung beginnt im Dezember 2012, knapp ein halbes Jahr vor Elenas Geburt. Sandra Novak ist in der 16. Woche schwanger. Es wird das erste Kind des Ehepaars sein; sie 26, er 30 Jahre alt.

 

Sandra Novak hat einen Frauenarzttermin, sie liegt auf dem Rücken, ein Ultraschall wird gemacht. Eine Routineuntersuchung eigentlich, doch an jenem Tag schallt der Arzt immer wieder den Kopf des Ungeborenen. Zu viel Schwarz auf dem Bildschirm, zu viel Flüssigkeit im Kopf des Kindes. Der Arzt sagt: „Hier stimmt etwas nicht, sie müssen sofort in die Klinik.“

 

Das Universitätsklinikum Frankfurt, 1300 Betten. Drei Stunden Wartezeit an diesem Freitag vor Weihnachten. Dann erklärt ein Arzt die Diagnose. Das Ungeborene hat einen offenen Rücken, eine sogenannte Spina bifida. Sie entsteht, wenn die Wirbelsäule während der Entwicklung des Kindes nicht richtig zusammenwächst. Über der Öffnung bildet sich eine Art Zyste. Trotzdem ist das Rückenmark geschädigt, betroffene Kinder sind meist querschnittsgelähmt. Niemand würde den Eltern einen Vorwurf machen, wenn sie die Schwangerschaft jetzt beendeten. Dann sagt der Arzt: „So ein Schwangerschaftsabbruch zwischen den Jahren ist schwierig.“

 

Noch drei Tage bis Weihnachten, hinzu kommt das bevorstehende Wochenende. Rückblickend ein Glücksfall, sagen die Novaks heute. Denn wäre eine Abtreibung sofort möglich gewesen, sie hätten es gemacht.

 

Wenn man sie fragt, wie das Weihnachtsfest nach der Diagnose gewesen sei, sagen sie: „schwarz.“ Wenn man fragt, was sie bis Silvester gemacht haben, finden die Novaks keine Antwort. Als sei ein Loch in die letzten Tage des Jahres 2012 gerissen worden.

 

Dann, kurz vor Jahresende, fangen sie an zu googeln. Stoßen auf eine Selbsthilfegruppe, treffen sich mit einer Familie, die ein Kind mit der gleichen Behinderung bekommen hat. Von den Eltern des Jungen erfahren sie: Es gibt Krankenhäuser, in denen Embryos noch vor der Geburt operiert werden, und es gebe Kinder mit Spina bifida, die laufen. Sogar studieren.

 

Da trifft das Ehepaar Novak zum ersten Mal die Entscheidung: Wir bekommen das Kind.

 

Vater und Mutter fahren in eine Klinik unweit von Frankfurt, in der Kinder vorgeburtlich operiert werden. Doch die Voruntersuchung zerschlägt alle Hoffnung. Das Kind habe nicht nur einen offenen Rücken, sondern auch einen Herzfehler, sagt der Arzt dort. Eine zweite Behinderung. Zum ersten Mal fällt das Wort Trisomie 18. Fruchtwasser wird entnommen und untersucht. Das Ergebnis soll an einem Freitag feststehen.

 

Es gibt eine Regel unter Medizinern: Schlechte Nachrichten werden, wenn es sich irgendwie vermeiden lässt, nicht freitagnachmittags überbracht. Am Wochenende haben viele Ärzte frei, zwei Tage Stillstand, quälend lang für Patienten in einer Extremsituation. Sandra Novak kennt die Regel, ihr Frauenarzt hat ihr einmal davon erzählt.

 

Ihr Handy klingelt an einem Montag, um 8.05 Uhr, sie ahnt: schlechte Nachrichten.
„Ihr Ungeborenes hat eine freie Trisomie 18, bitte kommen Sie in die Klinik“, sagt der Arzt am Telefon.

 

Die Novaks wohnen im zweiten Stock. Oft sitzen sie abends auf ihrem kleinen Balkon. Sandra Novak sagt, in diesem Moment habe sie überlegt, sich hinunterzustürzen.

 

Der Mensch trägt in jeder Zelle 23 Chromosomenpaare, 46 einzelne Chromosomen insgesamt. Sie enthalten den Bauplan des Menschen, die Gene. Bei der Trisomie 18 liegt das Chromosom 18 dreifach vor. Ein Fehler im Bauplan. Die Konsequenzen sind unberechenbar. Es gibt Kinder, die kommen mit defektem Herzen, defekter Speiseröhre oder fehlgebildeten Nieren auf die Welt. Nichts ist sicher, außer: Alle sterben sie daran, meist innerhalb der ersten Tage.

 

Einen Tag nach dem Anruf fahren die Novaks in die Klinik, um den Befund zu besprechen. Sandra Novak ist jetzt in der 22. Schwangerschaftswoche, noch 14 Tage, dann gilt das Kind als überlebensfähig, sollte es frühzeitig auf die Welt kommen.

 

Sandra Novak sagt heute: „Nach dem Gespräch hatte ich das Gefühl, ein Monster im Bauch zu haben.“ Das Schlimmste sei gewesen, dass nur über die schlechten Dinge gesprochen wurde. Die Novaks zitieren die Ärzte: „Das Kind wird direkt bei der Geburt versterben, und wenn es das nicht tut, dann hat es jedenfalls nur kurz zu leben.“ Sie könnten noch diese Woche eine Spätabtreibung durchführen, man würde das Kind im Mutterleib töten, danach müsse Sandra Novak es gebären.

 

Kristian Novak sagt: „Niemand hat uns Hoffnung gemacht, dass es auch gut ausgehen kann.“ Vielleicht haben die Novaks im Schock auch nur das Negative gehört. Zweifelsfrei nachprüfen lässt sich das nicht.

 

Doch eine Notiz im Arztbrief bekräftigt die Wahrnehmung der Novaks. Unter „Weiterem Vorgehen“ steht: „Das Paar wird sich morgen nochmals telefonisch hier melden und die endgültige Entscheidung bei Tendenz zum Schwangerschaftsabbruch mitteilen.“

 

Das bedeutet: Zwischen der Mitteilung der Diagnose und der Entscheidung soll nur ein Tag liegen. Das Gesetz schreibt eine Bedenkfrist von drei Tagen vor, die zwischen Mitteilung einer Diagnose und der Entscheidung zum Abbruch liegen muss. Außerdem wird im Arztbrief vermerkt, dass das Ehepaar Novak noch am selben Tag einen Termin für eine „psychosoziale Beratung“ hat. Als wolle man keine Zeit verlieren.

 

Die Novaks sagen heute, viel zu früh sei das für sie gewesen. Sie erzählen, die Beraterin habe sie während des Gesprächs immer wieder gefragt: „Wie fühlen Sie sich jetzt?“ Als unpassend und überflüssig hätten sie das empfunden. Nicht auf ihren Einzelfall zugeschnitten. Außerdem habe die Beraterin mit den Diagnosen gar nichts anfangen können. So seien die Stunden dort wie im Traum vorbeigegangen.

 

Schon an einem der nächsten Tage folgt der Anruf aus der Klinik. Man habe bald ein freies Zimmer, ob Sandra Novak denn nun zum Abbruch käme oder nicht?

 

Da habe sie begriffen, dass sie Teil einer Klinikmaschinerie geworden war. Dem Anrufenden antwortet sie deshalb: „Der Todestag meines Kindes entscheidet sich nicht danach, wann Sie ein Zimmer frei haben.“

 

Dann machen die Novaks das, was viele Eltern im Schockzustand versäumen. Sie holen eine Zweitmeinung bei ihrem Gynäkologen ein. Der sagt: „Es gibt Ausnahmen. Nicht bei allen Trisomie-18-Kindern ist die Fehlbildung so groß, dass sie sofort versterben.“ Er sagt auch: „Kein Arzt dieser Welt wird sagen können, ob Ihr Kind eine Ausnahme sein wird.“

 

Die Novaks erfahren von der Möglichkeit einer palliativen Geburt. Das Kind zu bekommen, obwohl es sterben wird. Da treffen sie zum zweiten Mal die Entscheidung: Wir bekommen das Kind.

 

Sie warten nun jeden Morgen nach dem Aufstehen auf die Bewegung des Kindes in Sandra Novak, haben Angst, es könne unbemerkt noch vor der Geburt sterben. Nach der ersten Diagnose hat die werdende Mutter eine Spieluhr in Form eines Hundes gekauft. Sie stellt sie jeden Abend auf ihren Bauch. Ansonsten kaufen die Novaks nichts. Sie fürchten sich davor, alles wegwerfen zu müssen, wenn sie nach der Geburt ohne Baby nach Hause kommen. Nur Sandra Novaks Schwester bereitet eine Tasche vor, mit Stramplern, einer Mütze, Windeln, vorsichtshalber nur für die ersten Wochen.

 

Wie lange würde das Baby leben?

 

Die Novaks wollen jetzt keine Fehler machen. Daher halten sie ihre Wünsche, ehe sie zur Entbindung ins Krankenhaus gehen, in dem Brief an die behandelnden Ärzte fest, engagieren die eigene Hebamme. Die habe vor der Geburt gesagt, es könne sein, dass die Babys der Mütter nebenan im Kreißsaal schreien würden und das Kind der Novaks nicht. Aber so sei das Leben, man könne es nicht für ein paar Stunden ausschalten. Die Novaks finden, sie hat recht.

 

In der 41. Woche wird die Geburt im Uniklinikum in Frankfurt eingeleitet. Von einem Kaiserschnitt wird den Eltern abgeraten. Ein Kaiserschnitt sei schließlich eine Operation, behaftet mit Risiken. Zwar ein Standardeingriff, aber die Gefahr für die Mutter stünde in diesem Fall in keinem Verhältnis zu den Überlebenschancen des Kindes. Eingeschüchtert hätten sie sich gefühlt, sagen die Novaks heute. Überfordert. Andere Ärzte werden später sagen, man habe dem Kind mit der Entscheidung gegen einen Kaiserschnitt Chancen genommen. Weil es gefährlich ist, ein Kind mit offenem Rücken durch den engen Geburtskanal zu gebären. Unmenschlich.

 

Laut ärztlichen Leitlinien werden bei einer Geburt die kindlichen Herztöne und die Wehen der Mutter überwacht. Zur Sicherheit des Kindes. Weil man kein Kind kampflos sterben lässt. Bei dieser Geburt wird, nach Aussage der Eltern, darauf verzichtet. Die Uniklinik möchte sich dazu nicht äußern.

 

Am 4. Juni 2013 um 6.26 Uhr kommt Elena Novak auf die Welt.

 

Die Hebamme, so die Eltern, hätte sich wochenlang emotional auf die Geburt vorbereitet. Darauf, dass Elena tot sein würde, die Eltern zusammenbrechen könnten, dass das Kind in ihren Armen stirbt.

 

Aber nicht darauf, dass Elena Novak, 2650 Gramm schwer, 52 Zentimeter lang, so süß sein würde.
In dem Schreiben, das die Eltern vor Elenas Geburt am Computer aufgesetzt haben, steht auch: „Sollte sich entgegen allen Erwartungen der Gesundheitszustand unserer Tochter als stabil zeigen, wünschen wir eine Behandlung der Spina bifida, die insbesondere zur Vermeidung einer Infektion dienen soll.“

 

Aber die Ärzte hätten gesagt, so die Eltern, das Kind sei zu schwach, würde zeitnah an der Trisomie 18 sterben. Es sei gegen eine Operation entschieden worden, weil Elena wiederholt Atemstörungen gehabt habe. Eine Operation sei quälend für Kind und Mutter. Die Ärzte sagen, es sei eine gemeinschaftliche Entscheidung mit den Eltern gewesen, die Therapie sei mit ihnen abgestimmt worden, außerdem hätten sie Weiterbehandlung angeboten. Die Novaks sagen, das sei gelogen. Einig sind sich Eltern und Ärzte nur in einem Punkt: Hätten die Ärzte nicht vor der Geburt von der einen Behinderung, der Trisomie 18, gewusst, und hätten sie nicht angenommen, dass das Kind schnell an dieser Behinderung sterben würde, wäre die andere Behinderung, der offene Rücken, kurz nach der Geburt operiert worden.

 

Doch Elena stirbt nicht.

 

Nicht am ersten Tag, nicht am zweiten, nicht am dritten. Sie beginnt, aus der Flasche zu trinken, anfängliche Atemaussetzer werden weniger, der Arzt notiert: „zunehmend stabiler“. Der Rücken wird trotzdem nicht verschlossen. Der Körper des Säuglings liegt da wie eine Provokation. Nur eine Frage von Tagen, vielleicht Wochen, bis sich die Öffnung am Rücken infiziert, Keime über das Hirnwasser hinauf bis in den Kopf wandern. Eine Hirnentzündung droht, ein qualvoller Tod.

 

Am zehnten Tag werden Mutter und Kind aus dem Krankenhaus entlassen. Die Novaks sollen das Kind in „Seiten- oder Bauchlage“ lagern, so steht es im Arztbrief. Weil sie nicht wissen, wie sie das Kind anfassen können, legen die Eltern Elena bäuchlings in den Kinderwagen. Und weil der in kein Taxi passt, fahren sie mit der Straßenbahn nach Hause.

 

Ein palliativer Pflegedienst kümmert sich um das Kind. Der Vater ruft dort mehrfach am Tag an. Elenas Verband ist feucht vom Hirnwasser. Hinzu kommen Krampfanfälle in den Beinen. Eine Qual für das Baby. Menschenunwürdig, nennt es eine Ärztin später. Schließlich hört Elena auf zu trinken.
Da haben die Novaks schon begonnen, das Richtige zu tun: Sie holen sich Hilfe, nehmen zu einer Klinik Kontakt auf, und tragen Elena, 20 Tage nach ihrer Geburt, in dieses Krankenhaus.

 

Die Ärzte sind schockiert von dem, was sie sehen. Ein Kind, blass und unterernährt. Aber lebend. Mit einer unbehandelten Spina bifida. Die operierende Neurochirurgin sagt, sie haben nur zweimal während ihrer Karriere ein Kind gesehen, dessen offener Rücken nicht innerhalb 48 Stunden verschlossen wurde. Einmal kam der kleine Patient von den Philippinen. Das andere Mal aus Afrika.

 

22 Tage nach Elenas Geburt wird dem Kind in einer eineinhalb Stunden dauernden Operation der Rücken verschlossen. Zwei Neurochirurgen sind anwesend, beide sagen, es sei kein besonders komplizierter Eingriff gewesen. Im Entlassungsbrief steht: Die Verlegung erfolgt in stabilem Allgemeinzustand und reizlosen Wundverhältnissen. Wir wünschen der Familie viel Kraft für die nächsten Wochen und Monate.

 

Auf Jahre hofft niemand. Deshalb gehen die Eltern mit ihrer Tochter in ein Wiesbadener Hospiz. Es heißt „Bärenherz“. Ein verglaster Neubau, im Innenhof ist ein Spielplatz mit Planschbecken angelegt. In einem Bücherregal stehen: die Bibel, der Koran, „Michel aus Lönneberga“, „Leben Lachen Sterben Trauern“. Es gibt einen Erinnerungsgarten, dort ist ein Briefkasten montiert, in dem Eltern Nachrichten an ihre verstorbenen Kinder verbrennen können. Auf dem Boden liegen Steine, für jedes Kind, das gegangen ist. Unter dem Namen steht jeweils das Geburts- und das Sterbejahr geschrieben.

 

2002 bis 2012.
1997 bis 2005.
2007 bis 2011.

 

In den ersten zehn Tagen Aufenthalt der Novaks kommen drei Steine hinzu.

 

Die Familie wohnt in einem Zimmer, etwa 24 Quadratmeter mit Küchennische. In der ersten Nacht schlafen alle drei in einem Bett. Zum ersten Mal. Und endlich können sie Elena auch in den Arm nehmen.

 

Im Bärenherz darf sich jedes Kind etwas wünschen. Ein viel zu früher letzter Wunsch. Ein Mädchen mit Hirntumor möchte noch seinen sechsten Geburtstag erleben, eingeschult werden. Als die Hospizleiterin die Novaks fragt, was sie gern möchten, sagt der Vater: „Ein gemeinsamer Urlaub wäre nicht schlecht.“

 

Die kroatische Insel Hvar ist 67 Kilometer lang und zehn Kilometer breit. Es gibt kaum medizinische Versorgung, doch die Novaks haben in Kroatien Familie. Sie verbringen dort drei Wochen in einer abgeschiedenen Bucht. Meerblick. Sie sagen, es sei die glücklichste Zeit seit Elenas Geburt gewesen.
Atemaussetzer.

 

Epileptische Anfälle.

 

Zum Ende des Urlaubs verschlechtert sich der Zustand des Kindes. Doch noch eine Infektion. Ein letztes Mal muss Elena in Deutschland operiert werden.

 

Die Ärzte sagen, sie seien sicher gewesen, dass sie Elena diesmal verlieren.

 

Sie empfehlen, das Kind keinen weiteren Eingriffen mehr auszusetzen.

 

Die Eltern stimmen zu.

 

79 Tage haben die Novaks bis dahin mit ihrer ersten Tochter Elena verbracht. 79 Tage, in denen sie sich nicht trauten, von „nächstem Monat“, geschweige denn „nächstem Jahr“, zu sprechen. In denen sie ein Kind bekamen, das wahrscheinlich 90 Prozent der Deutschen abgetrieben hätten.

 

Jetzt fühlen sie sich bereit zum Abschiednehmen. Doch wieder weiß es Elena besser. Anstatt schlechter, geht es ihr besser. Dieses Kind möchte nicht sterben.
Es folgt ein weiterer langer Aufenthalt im Bärenherz.

 

Und schließlich, im Dezember 2013, ein halbes Jahr nach Elenas Geburt, geht die Familie zu dritt wieder nach Hause.

 

Heute liegt Elena in ihrem Bettchen in Frankfurt, spielt mit einem Mobile, an dem ein Teddybär und eine Rassel hängen.

 

Sie ist von der Hüfte abwärts gelähmt und geistig behindert, das Gehirn ist fehlgebildet. Ihre Ohren stehen tiefer als bei anderen Kindern, ein Auge schielt ein bisschen nach innen, der Kopf ist etwas verformt.

 

Trotzdem würden andere Menschen oft nicht merken, dass ihr Kind behindert ist, sagt Sandra Novak. Wenn da nicht das Alter wäre. Mit zwei Jahren laufen Kinder, lernen zu sprechen. Elena aber braucht immer noch die Zuwendung wie bei einem Neugeborenen. Wickeln, Füttern, Waschen.

 

Ein Babyalltag in Endlosschleife.

 

Einmal in der Woche kommt ein Physiotherapeut, in der Nacht schließen die Novaks Elena an Geräte an, für den Fall, dass sich die Sauerstoffsättigung oder die Herzschläge verschlechtern. Bisher ist das nicht passiert. Auch Medikamente braucht Elena nicht.

 

Wenn der Großvater zu Besuch ist, streichelt er über den Kopf seiner Enkelin und sagt: „Meine kleine Prinzessin.“ Die Mutter nennt sie „mein Mäuschen“. Wenn man die Eltern fragt, ob sie sich heute erneut für ein schwerbehindertes Kind entscheiden würden, erzählen sie davon, wie Elena das erste Mal lachte. Auf der Wickelkommode, ein halbes Jahr war sie da alt. Sie erzählen davon, wie sie Kristian Novak die ganze Zeit mit den Augen fixiert, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt.

 

Elena wisse eben genau, wer ihr Vater sei. Sie erzählen, wie Sandra Novak, anstatt mit Elena in eine Krabbelgruppe zu gehen, regelmäßig mit ihr die Lampenabteilung eines Baumarkts besucht. Dann lacht Elena, schaut fasziniert auf die Lichter. Die Mitarbeiter dort kennen die Mutter und ihre behinderte Tochter längst. Die das Alltagsglück in einer Lampenabteilung im Baumarkt finden.

 

Sandra Novak erzählt, viele Menschen würden mit Unverständnis reagieren, wenn sie erführen, dass die Novaks vor der Geburt von Elenas Behinderung wussten. „Wir leben in einer Gesellschaft, in der man sich rechtfertigen muss, ein behindertes Kind geboren zu haben“, sagt sie. Man müsse ihren Alltag nicht glorifizieren. Aber es sei kein schlechtes Leben, nur anders. Außerdem, sagt der Vater, sei Elena längst kein Baby mehr. Sie ist reifer geworden, weint weniger, versucht immer mehr, sich selbst zu drehen. Sucht Blickkontakt mit Fremden.

 

Im Sommer 2015 sitzt die ganze Familie während einer Kontrolluntersuchung vor den Neurochirurgen, die vor zwei Jahren den offenen Rücken verschlossen haben und Elena damit das Leben retteten.

 

Neben den Novaks steht ein Zwillingskinderwagen. Vor wenigen Wochen ist Elena eine große Schwester geworden. Von einem gesunden Mädchen, Julijana, sie kam am 19. Juli 2015 auf die Welt. Die Eltern hatten alle vorgeburtlichen Untersuchungen außer Ultraschall abgelehnt.

 

Der Arzt fragt jetzt: „Wie läuft es mit Julijana?“

 

Die Mutter sagt: „Sie ist eine ganz Liebe, schläft die ganze Nacht durch.“

 

Der Vater sagt: „Ja, wir haben echt Glück mit unseren Mädchen.“

 

Dann sagen die Eltern, wenn sie jetzt noch einmal einen letzten Wunsch hätten, dann den, dass sich die neugeborene Julijana später einmal an ihre große Schwestern erinnern kann. Von selbst. Nicht nur aus Erzählungen.

 

Die Ärzte sagen, das könnte zu schaffen sein.
 

Wenn man die Eltern fragt, ob sie sich wieder so entscheiden würden, erzählen sie, wie Elena das erste Mal lachte.
„Wir möchten darauf hinweisen, dass jede Minute mit unserer Tochter ein Geschenk für uns sein wird.“
Vor dem Hospiz gibt es einen Erinnerungsgarten. Auf dem Boden liegen Steine, für jedes Kind, das gegangen ist.